Werden Überstundenvergütungen für einen Zeitraum von mehr als zwölf Monaten veranlagungszeitraumübergreifend geleistet, ist die Tarifermäßigung nach § 34 Abs. 2 Nr. 4 2. Halbsatz EStG zu gewähren.
BFH-Urt. v. 2.12.2021 – VI R 23/19, DB 2022, 779
Grundsätzliches
Die Vergütung von Überstunden setzt sich zusammen aus dem Grundlohn für die jeweilige Überstunde und dem i. d. R. geleisteten Überstundenzuschlag.
Praxishinweis
Der Anspruch auf Überstundenvergütungen und / oder Überstundenzuschläge kann in einem Gesetz, einer Rechtsverordnung, einem Tarifvertrag, einer Betriebsvereinbarung oder einem Einzelarbeitsvertrag geregelt sein.[1]
Die Mehrarbeitsvergütungen sind nach Auffassung der Finanzverwaltung grundsätzlich laufender Arbeitslohn[2], so dass sowohl die Überstundenvergütung als auch die Überstundenzuschläge in dem Kalenderjahr als bezogen gelten, in dem der Lohnzahlungszeitraum endet.[3] Das Zuflussprinzip wird grundsätzlich durchbrochen.[4]
Praxishinweis
Sofern die Zahlung des laufenden Arbeitslohns für Lohnzahlungszeiträume des abgelaufenen Kalenderjahres später als drei Wochen nach Ablauf des Jahres zufließt, gilt diese als sonstiger Bezug und ist im Zahlungszeitpunkt zu versteuern.[5] Für diese zeitliche Begrenzung sprechen auch praktische Erwägungen.[6] Auf die steuerpflichtigen Überstundenvergütungen kann eine Steuerermäßigung nach § 34 Abs. 1 EStG in Betracht kommen.[7]
Vom BFH zu entscheidende Frage
Der BFH hatte über folgende Frage zu entscheiden:
Gehören die im Rahmen eines Aufhebungsvertrags vereinbarten Überstundenvergütungen zu den außerordentlichen Einkünften i.S. des § 34 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 4 EStG?
Sachverhalt
Die Kläger sind verheiratet und wurden 2016 zusammen zur ESt veranlagt. Der Kläger war als Arbeitnehmer nichtselbständig tätig. In den Jahren 2013 bis 2015 hatte er rund 330 Überstunden geleistet.
Im August 2016 vereinbarte der Kläger mit der GmbH die Aufhebung des Arbeitsvertrags zum 30.11.2016. Der Aufhebungsvertrag sah u. a. vor, dass die GmbH mit der Lohnabrechnung August 2016 rückwirkend für die Vorjahre die 330 geleisteten und bislang nicht ausgezahlten Überstunden vergütet.
Im Rahmen der ESt-Erklärung beantragten die Kläger, auf die Überstundenvergütung die Fünftelungsregelung anzuwenden, da Arbeitslohn für mehrere Jahre vorliege.
Das FA gewährte im Gegensatz zu dem FG Münster[8] die Fünftelungsregelung nicht.
Sachverhalt in tabellarisch zusammengefasster Form | |
Streitjahr | 2016 |
Kläger | Eheleute werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Ehemann erhielt im Streitjahr Überstunden aufgrund eines Aufhebungsvertrags ausgezahlt. Im LSt-Abzugsverfahren besteuerte der Arbeitgeber den Arbeitslohn ohne Anwendung der Fünftelungsregelung. Im Veranlagungsverfahren begehrten die Kläger die Anwendung von § 34 Abs. 1 EStG. |
Finanzamt | Keine Gewährung von § 34 Abs. 1 EStG. |
FG Münster | Einkünfte für eine mehrjährige Tätigkeit, die die Anwendung von § 34 Abs. 1 EStG auslösen, liegen in Bezug auf die nachgezahlten Überstundenvergütungen vor. |
Entscheidung und Begründung
Der BFH wies die vom FA eingelegte Revision als unbegründet zurück.
- Bei außerordentlichen Einkünften i.S.d. § 34 Abs. 2 EStG ist die sog. Fünftelungsregelung nach § 34 Abs. 1 EStG anzuwenden.[9]
- Als außerordentliche Einkünfte kommen neben den Entschädigungen[10] auch Vergütungen für mehrjährige Tätigkeiten in Frage.
- Bei der Überstundennachzahlung handelt es sich um Vergütungen für eine mehrjährige Tätigkeit, sofern diese für einen Zeitraum von mehr als 12 Monaten veranlagungsübergreifend geleistet werden.
- Die Entlohnung für eine mehrjährige Tätigkeit muss zudem aus wirtschaftlich vernünftigen Gründen in zusammengeballter Form erfolgen. Dies ist zumindest bei Zahlung einer Überstundenvergütung aufgrund der Beendigung des Dienstverhältnisses der Fall.
Anmerkungen
Die BFH-Entscheidung ist zu begrüßen. Sie verdeutlicht auch das Zusammenspiel zwischen dem LSt-Abzugsverfahren und dem Veranlagungsverfahren. Selbst wenn eine Steuerfreiheit oder eine Steuerermäßigung im Rahmen des LSt-Abzugsverfahrens keine Berücksichtigung fand, ist der Arbeitnehmer in seiner Einkommensteuer-Erklärung nicht hieran gebunden. Er kann eine Steuerfreiheit oder auch eine Steuerermäßigung nach § 34 EStG erstmals im Veranlagungsverfahren beantragen; die Besteuerungsentscheidung im LSt-Abzugsverfahren löst keine Bindungswirkung für das Veranlagungsverfahren aus.
Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung kann beispielsweise auch die Fünftelungsregelung geltend gemacht werden, selbst wenn der Arbeitgeber diese im LSt-Abzugsverfahren nicht angewandt hat.
Eine Vergütung wird für eine mehrjährige Tätigkeit erbracht, wenn sie sich über mindestens zwei Veranlagungszeiträume erstreckt und einen Zeitraum von mehr als zwölf Monaten umfasst.
Insbesondere der Berechnung des Entgelts kommt für die Beantwortung der Frage, ob eine Mehrjährigkeit vorliegt, eine maßgebliche Bedeutung zu. Im Entscheidungsfall erhielt der Kläger die Überstundenvergütungen mehrerer Jahre, und zwar für die Jahre 2013 bis 2015, aufgrund einer Aufhebungsvereinbarung in 2016 ausgezahlt. Zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer wurde der bestehende Arbeitsvertrag zum 30.11.2016 aufgehoben, weil der Mitarbeiter seit September 2015 ununterbrochen erkrankt war, er aufgrund der Schwere der Krankheit nicht mehr an seinen Arbeitsplatz zurückkehren konnte und hierdurch eine krankheitsbedingte Kündigung nebst arbeitsgerichtlichen Verfahrens verhindert wurde.
Praxishinweis
Das FG Hamburg hat mit Urteil vom 2. Juli 2002[11] entschieden, dass eine Nachzahlung von in früheren Jahren erdienten Überstundenvergütungen nicht nach § 34 EStG begünstigt ist. Diese Entscheidung ist durch die vorliegende BFH-Entscheidung überholt.
Darüber hinaus müssen wirtschaftliche Gründe für die zusammengeballte Entlohnung vorliegen. Diese können sowohl in der Person des Arbeitnehmers als auch des Arbeitgebers liegen.[12]
Praxishinweis
Kommt ein über Jahre angesparter Arbeitslohnanspruch infolge der Belastungen während der Corona-Pandemie oder infolge der Energiepreiserhöhung auf Wunsch des Mitarbeiters zur Auszahlung, dürfte auch von wirtschaftlichen Gründen auszugehen sein. Zur Vermeidung einer späteren Arbeitgeberhaftung sollte eine Anrufungsauskunft[13] über die Anwendbarkeit der Fünftelungsregelung im LSt-Abzugsverfahren[14] eingeholt werden.
[1] Zum Anspruch auf Überstundenvergütung trotz entgegenstehender Betriebsvereinbarung wegen Vorrangs des Tarifvertrags siehe BAG-Urt. v. 17.8.2021 – 1 AZR 175/20, DB 2021, 3103 und Kunisch, BB 2022, 575
[2] R 39b.2 Abs. 1 Nr. 3 LStR
[3] § 38a Abs. 1 Satz 2 EStG
[4] § 11 Abs. 1 Satz 4 EStG
[5] R 39b.2 Abs. 2 Nr. 8 LStR
[6] Zutreffend Tillmann in HHR, § 38a EStG Anm. 18
[7] Siehe nachfolgende Ausführungen; gleichwohl kann sich eine SV-Pflicht ergeben (siehe hierzu BSG-Urt. v. 10.12.2019 – B 12 R 9/18 R, juris)
[8] FG Münster, Urt. v. 23.5.2019 – 3 K 1007/18 E, EFG 2019, 1199
[9] Zur Anwendung auch im Lohnsteuer-Abzugsverfahren siehe: § 39b Abs. 3 Satz 9 EStG
[10] § 24 Nr. 1 EStG
[11] FG Hamburg, Urt. v. 2.7.2002 – II 83/01, EFG 2002, 1530 rkr.
[12] Schiffers, Korn, EStG-Komm., § 34 Rz. 59
[13] § 42e EStG; siehe auch Seifert, AktStR 1/2022 m.w.N.
[14] § 39b Abs. 3 Satz 9 EStG