Richtsatzschätzungen vor dem Aus?

Bei Schätzung der Besteuerungsgrundlagen räumt der BFH dem inneren Betriebsvergleich grundsätzlich den Vorrang vor dem äußeren Betriebsvergleich ein. Bei ausnahmsweiser Anwendung des äußeren Betriebsvergleichs hat der BFH zudem erhebliche Zweifel, ob die gegenwärtigen amtlichen Richtsatzsammlungen als Schätzungsmethode geeignet sind.[1]

Grundsätzliches

Das BMF gibt jährlich die Richtsatzsammlung heraus. Diese enthält für verschiedene Branchen bzw. Wirtschaftszweige Angaben zu durchschnittlichen Rohgewinnen bzw. Reingewinnen. Grundlage hierfür sind Richtsatzprüfungen, die von den Betriebsprüfungsdiensten der Länderfinanzverwaltungen alle vier Jahre durchgeführt werden.

Es werden untere, mittlere und obere Rahmensätze gebildet, die betriebliche oder regionale Unterschiede abbilden sollen. Innerhalb dieser Rahmensätze kann dann der zu beurteilende oder zu schätzende Betrieb eingeordnet werden. Die Richtsatzsammlungen werden von der FinVerw bei der Verprobung von Umsätzen und Gewinnen herangezogen. Sie sind häufiger Ausgangs- und Anhaltspunkt für Schätzungen der Besteuerungsgrundlagen im Rahmen einer Außenprüfung nach einem externen Betriebsvergleich. Auch von Finanzgerichten werden die Werte der amtlichen Richtsatzsammlung in Entscheidungen herangezogen.

Zu klärende Rechtsfrage

Der BFH musste die Frage entscheiden, ob die amtliche Richtsatzsammlung bei einem externen Betriebsvergleich als Schätzungsmethode herangezogen werden kann, falls durch einen internen Betriebsvergleich vermeintlich kein verlässliches Zahlenmaterial vorliegt.

Der Entscheidungsfall

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt verhielt sich folgendermaßen:

  • Der Kläger betrieb eine Diskothek.
  • Eine für die Streitjahre 2013 und 2014 durchgeführte Außenprüfung beanstandete die Kassen- und Buchführung des Klägers als formell ordnungswidrig.
  • Aus diesem Grund verprobte der Prüfer die Getränkeumsätze und ermittelte einen Rohgewinnaufschlagsatz von knapp 400 %. Dieser wich erheblich von denjenigen Sätzen ab, die den Gewinnermittlungen des Klägers zu entnehmen waren. Hieraus folgerte der Prüfer, dass die Betriebseinnahmen und Umsätze nicht vollständig erklärt worden seien.
  • Auf Grundlage des von dem Prüfer errechneten Aufschlagsatzes schätzte er bei den Getränkeverkäufen Einnahmen bzw. Umsätze von netto ca. 417.000 EUR (2013) bzw. 247.000 EUR (2014) hinzu.

FG Hamburg: Schätzung durch amtliche Richtsatzsammlung

Das FG Hamburg ging im ersten Rechtsgang von einer Schätzungsberechtigung dem Grunde nach aus. Das FG Hamburg schätzte aufgrund eigener Schätzungsbefugnis und berief sich u. a. auf einen nur der Finanzverwaltung zugänglichen ermittelten Rohgewinnaufschlagsatz, ohne diese Quelle dem Kläger zugänglich zu machen.[2] Der BFH wies die Sache wegen Verletzung gegen das rechtliche Gehör an das FG zurück.[3]

Das FG Hamburg schätzte daraufhin im zweiten Rechtsgang den Rohgewinnaufschlagsatz mit 300 % nach der Richtsatzsammlung für die Gastronomie.[4]

Der BFH hat daraufhin das BMF aufgefordert, dem Verfahren beizutreten und zur Frage Stellung zu nehmen, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen ein äußerer Betriebsvermögensvergleich durch amtliche Richtsatzsammlungen zulässig ist.[5]

BFH: Höhe der Schätzung soll sich am inneren Betriebsvergleich orientieren

Der BFH hat das Urt. des FG Hamburg v. 13.10.2020[6] aufgehoben und die Sache (erneut) zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Der BFH begründet dies im Wesentlichen wie folgt:

  • Das FG hat zutreffend eine Schätzungsbefugnis dem Grunde nach bejaht. Die Kassensturzfähigkeit war im Entscheidungsfall nicht gegeben, weil Kasseneinzelaufzeichnungen nicht geführt wurden oder nicht vorliegen (Rz. 43).
  • Schätzung der Höhe nach: Der Höhe nach hat das FG Hamburg aber die vorgenommene Hinzuschätzung durch äußeren Betriebsvermögensvergleich nicht nachvollziehbar begründet.
  • Eine Diskothek lässt sich keiner in der amtlichen Richtsatzsammlung aufgeführten Gewerbeklasse zuordnen. Richtsätze des Gaststättengewerbes lassen sich nicht auf Diskotheken übertragen (Rz. 70). Sollen amtliche Richtsatzsammlungen auf andere nicht in der Richtsatzsammlung aufgeführte Betriebe angewandt werden, bedarf dies einer nachvollziehbaren Begründung (Rz. 71). An dieser mangelt es im Entscheidungsfall.

Anmerkungen

Das FG Hamburg muss sich ein drittes Mal mit demselben Sachverhalt befassen. Ob es bei „Aller Gute Dinge sind drei“ bleibt, wird die Zukunft zeigen.

  • Die Rezensionsentscheidung ist aus mehreren Gründen beachtenswert:
  • Der BFH weist zunächst darauf hin, dass ihm als Rechtsinstanz keine eigene Schätzungsbefugnis zustehe (Rz. 74).
  • Für die Schätzung der Höhe nach weist der X. Senat des BFH darauf hin, dass er erhebliche Zweifel an der Schätzung auf Grundlage der gegenwärtigen amtlichen Richtsatzsammlung habe.
  • Begründet wird dies mit der fehlenden statistischen Repräsentativität der zur Ermittlung der Richtsätze herangezogenen Daten einerseits und dem kategorischen Ausschluss bestimmter Gruppen von Betrieben bei der Ermittlung der Richtsatzwerte andererseits.
  • Die fehlende statistische Repräsentativität solle vorliegen, weil nur die ohnehin zu einer Betriebsprüfung anstehenden Betriebe in die Datenermittlung einbezogen würden. Es fehle damit an einer Zufallsauswahl, was für die Annahme statistischer Repräsentativität erforderlich wäre (Rz. 110).
  • Zudem würden Verlustbetriebe bei der Ermittlung der Richtsätze von vornherein ausgeschlossen (Rz. 114); dies stelle ebenso die Repräsentativität in Frage.
  • Auch sei die Richtsatzschätzung eine sehr ungenaue Schätzungsmethode, so dass als zuverlässigere Schätzungsmethode der innere Betriebsvergleich heranzuziehen sei (Rz. 138).

Bedeutsam ist auch Folgendes:

Zwar hat der BFH entschieden, dass kein Anspruch auf Information über die der Richtsatzsammlung zugrunde liegenden Unterlagen bestehe.[7]

Das BMF hatte allerdings gegenüber dem BFH eine Stellungnahme zum Entstehen der amtlichen Richtsatzsammlungen abzugeben. Dieser Aufforderung ist das BMF mit seiner nicht veröffentlichten Stellungnahme vom 18.7.2023 auch nachgekommen. Auch infolge dieser Stellungnahme kam der BFH zum Schluss, dass die gegenwärtige amtlichen Richtsatzsammlung unter statistischen Gesichtspunkten den Ansprüchen einer „echten“ Zufallsauswahl nicht gerecht wird (Rz. 104 ff.).

Praxishinweis

Für die Praxis dürfte dies bedeuten, dass gegenwärtige Schätzungen, die sich auf die amtlichen Richtsatzsammlungen berufen, rechtswidrig sind. Gegen vergleichbare Steuerbescheide sollte verfahrensrechtlich vorgegangen und die Schätzung auf Grundlage des inneren Betriebsvergleichs gefordert werden. Dies kann aber – wie im Entscheidungsfall – auch dazu führen, dass die Kalkulation auf Grundlage des inneren Betriebsvergleichs zu einem höheren Aufschlagssatz als die Richtsatzsammlung führt.[8] So verhielt es sich auch im Entscheidungsfall. Das FG Hamburg nahm einen Aufschlagsatz von 300 %, statt wie vom Finanzamt von 400 % an. Es bleibt abzuwarten, auf welchen Zuschlagsatz man sich im nächsten FG-Verfahren einigen wird.

[1]           BFH-Urt. v. 18.6.2025 – X R 19/21, DStR 2023, 517

[2]           FG Hamburg, Urt. v. 3.9.2019 – 2 K 218/18, juris

[3]           BFH-Beschl. v. 28.5.2020 – X B 12/20, BFH/NV 2020, 1087

[4]           FG Hamburg, Urt. v. 13.10.2020 – 2 K 218/18, EFG 2022, 834

[5]           BFH-Beschl. v. 14.12.2022 – X R 19/21, DStR 2023, 517

[6]           FG Hamburg, Urt. v. 13.10.2020 – 2 K 218/18, EFG 2022, 834

[7]           BFH-Urt. v. 9.5.2025 – IX R 1/24, BFH/NV 2025, 1201

[8]           Nöcker, NWB 44/2025 v. 31.10.2025, 2988