Bei Gebäuden sind nach § 7 Abs. 4 Satz 1 EStG als Absetzung für Abnutzung die folgenden Prozentsätze bis zur vollen Absetzung ansetzbar:

 

  1. bei Gebäuden, soweit sie zu einem Betriebsvermögen gehören und nicht Wohnzwecken dienen und für die der Bauantrag nach dem 31. März 1985 gestellt worden ist, jährlich 3 Prozent,
  2. bei Gebäuden, soweit sie die Voraussetzungen der Nummer 1 nicht erfüllen und die
  3. a) nach dem 31. Dezember 1924 fertiggestellt worden sind, jährlich
    2 Prozent,
  4. b) vor dem 1. Januar 1925 fertiggestellt worden sind, jährlich 2,5 Prozent

 

der Anschaffungs- oder Herstellungskosten.[1]

 

Praxishinweis

Beträgt die tatsächliche Nutzungsdauer eines Gebäudes in den Fällen der Nummer 1 weniger als 33 Jahre, in den Fällen der Nummer 2 Buchstabe a weniger als 50 Jahre, in den Fällen der Nummer 2 Buchstabe b weniger als 40 Jahre, so kann anstelle der gesetzlich typisierenden Nutzungsdauer die Absetzungen für Abnutzung nach der tatsächlichen Nutzungsdauer des Gebäudes vorgenommen werden. § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG räumt ein Wahlrecht ein, ob der typisierende AfA-Satz übernommen wird oder ob eine tatsächlich kürzere Nutzungsdauer geltend gemacht und darlegt wird.[2]

 

„Nutzungsdauer“ ist der Zeitraum, in dem ein Gebäude voraussichtlich seiner Zweckbestimmung entsprechend genutzt werden kann.[3]

Die zu schätzende Nutzungsdauer wird bestimmt durch

  • den technischen Verschleiß,
  • die wirtschaftliche Entwertung sowie
  • rechtliche Gegebenheiten,

welche die Nutzungsdauer eines Gegenstands begrenzen können.

 

Praxishinweis

Auszugehen ist von der technischen Nutzungsdauer, also dem Zeitraum, in dem sich das Wirtschaftsgut technisch abnutzt. Sofern die wirtschaftliche Nutzungsdauer kürzer als die technische Nutzungsdauer ist, kann sich der Steuerpflichtige hierauf berufen.

 

Nachweis / Darlegung einer kürzeren Nutzungsdauer

Ob den Abschreibungen für Abnutzung eine die gesetzlich vorgesehenen, typisierten Zeiträume unterschreitende verkürzte Nutzungsdauer[4] zugrunde gelegt werden kann, beurteilt sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls.[5]

Das FG Münster hat sich aktuell mit der Frage der Berücksichtigung einer verkürzten Restnutzungsdauer eines Gebäudes auseinandergesetzt.[6]

  • Sachverhalt

Im Entscheidungsfall erwarb der Kläger im Jahr 2011 im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens ein Grundstück mit einem im Jahr 1955 errichteten Gebäude, das er seitdem zur Erzielung von Mieteinkünften nutzte. Das Amtsgericht hatte im Zwangsversteigerungsverfahren ein Sachverständigengutachten zur Ermittlung des Grundstückswerts auf den Stichtag 17. Mai 2010 in Auftrag gegeben.

Der öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige machte in seinem Gutachten u. a. Angaben zum Modernisierungsstand und zu erforderlichen Instandsetzungsarbeiten und kam danach zu einem fiktiven Baujahr von 1960 und zu einer Restnutzungsdauer des Gebäudes von 30 Jahren. Dem Gutachten legte er die Regelungen der zum Stichtag gültigen Wertermittlungsverordnung (WertV) zugrunde.

Der Kläger machte in seiner Einkommensteuer-Erklärung für die Streitjahre 2012 bis 2016 eine jährliche AfA des Gebäudes von 3,33 % als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung geltend. Das Finanzamt berücksichtigte demgegenüber lediglich einen gesetzlich bestimmten AfA-Satz von 2 %, da das Gutachten weder eine kürzere technische Nutzungsdauer durch Darlegung eines materiellen Verschleißes der Rohbauelemente noch eine kürzere wirtschaftliche Nutzungsdauer im steuerrechtlichen Sinne belege.

Die Ermittlung der Restnutzungsdauer im Sinne der WertV sei auf die steuerrechtliche Restnutzungsdauer nicht übertragbar, da sie nicht im Zusammenhang mit der gesetzlichen Typisierung der AfA-Regelung stehe.

 

Entscheidung des FG Münster

 

Das FG Münster gab der Klage in Bezug auf den vom Kläger beantragten  Abschreibungssatz statt. In der Begründung führt das FG Münster hierzu Folgendes aus:

  • Es ist Sache des Steuerpflichtigen, im jeweiligen Einzelfall eine kürzere tatsächliche Nutzungsdauer darzulegen und gegebenenfalls nachzuweisen.[7]
  • Der Steuerpflichtige kann sich jeder Darlegungsmethode bedienen, die zur Führung des Einzelnachweises geeignet erscheint.
  • Die kürzere Nutzungsdauer ist im Wege der Schätzung zu ermitteln. Im Rahmen der Schätzung wird nicht die Gewissheit über die kürzere tatsächliche Nutzungsdauer, sondern nur eine größtmögliche Wahrscheinlichkeit[8]
  • Als Schätzungsmethode kommt – entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung – nicht nur ein Bausubstanzgutachten in Betracht.
  • Wählt ein Steuerpflichtiger oder ein beauftragter Sachverständiger aus nachvollziehbaren Gründen eine andere Nachweismethode, kann diese Grundlage für eine Schätzung einer verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer sein.

 

Praxishinweis

Auch der BFH hat sich mit Urteil vom 28. Juli 2021[9] gegen die zwingende Schätzung auf Grundlage eines Bausubstanzgutachtens für die Anerkennung einer verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer ausgesprochen. Er hat in dem Entscheidungsfall die Anwendung der bis Ende 2021 geltenden Anlage 4 der Sachwertrichtlinie (SW-RL) vom 5. September 2012[10] als Schätzungsmethode akzeptiert.

Am 1. Januar 2022 ist die neue Immobilienwertermittlungsverordnung (ImmoWertV)[11] in Kraft getreten. Mit der neuen Verordnung soll stärker als bislang sichergestellt werden, dass insbesondere die Ermittlung der Bodenrichtwerte und der sonstigen der für die Wertermittlung erforderlichen Daten bundesweit nach einheitlichen Grundsätzen erfolgt.  Diese Verordnung hat auch die bisherige SW-RL[12] integriert, so dass ab 2022 auf Grundlage der nunmehr geltenden ImmoWertV eine Nutzungsdauer des Gebäudes geschätzt werden kann.

 

  • Im Entscheidungsfall des FG Münster hatte der Kläger ein Wertgutachten eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen vorgelegt, welches vom Amtsgericht S in Auftrag gegeben wurde und damit kein Parteigutachten
  • Nach Auffassung des FG hat der Sachverständige auf Grund sachlicher Kriterien eine (gegenüber § 7 Abs. 4 Satz 1 EStG abweichende) Restnutzungsdauer von 30 Jahren zu Grunde gelegt. Unter anderem hat er festgestellt, dass erhebliche Instandsetzungsarbeiten bis zur Kernsanierung mit Erneuerung und Ergänzung der gesamten Installation vom KG bis zum DG sowie an Fassade und dem Dach erforderlich waren, um eine nachhaltige Nutzung mit modernem Wohnraum zu schaffen.
  • Das FG folgte den fundierten Ausführungen des Gutachters und stellte fest, dass die tatsächliche Nutzungsdauer der streitigen Immobilie zum Zeitpunkt der Anschaffung auf 30 Jahre verkürzt war. Der Gutachter hatte eine modellhafte Ermittlung der Restnutzungsdauer durchgeführt. Während der Gutachter in dem vom BFH entschiedenen Fall in der Rs. IX R 25/19 das Modell gemäß Anlage 4 der SW-RL vom 5. September 2012 angewandt hatte, hat der Gutachter im Entscheidungsfall sowohl eine Ertragswertermittlung als auch eine Vergleichswertermittlung nach der WertV durchgeführt. Wie in dem BFH-Entscheidungsfall in der Rs. IX R 25/19 erfolgte neben der modellhaften Berechnung eine Inaugenscheinnahme des Gebäudes, um die Bauweise und etwaige ausstehende Modernisierungs- bzw. Sanierungsarbeiten beurteilen zu können. Der festgestellte Modernisierungsstau führte im Entscheidungsfall des FG Münster zu der – für das FG nachvollziehbaren – Einschätzung des Gutachters, dass von einer Restnutzungsdauer von 30 Jahren auszugehen sei. Dieses Ergebnis lag jedenfalls nicht (erheblich) außerhalb des zulässigen Schätzungsrahmens.

 

Praxishinweis

Fallen für das erworbene Objekt voraussichtlich erhebliche Instandsetzungsarbeiten an, um eine nachhaltige Nutzung von modernem Wohnraum zu schaffen, spielt die Darlegung einer verkürzten Nutzungsdauer eine erhebliche Rolle. Gerade in Zeiten des Klimawandels und Erwerb einer älteren Immobilie dürfte die neue Rechtsprechung von grundsätzlicher Bedeutung sein. Wenngleich das FG Münster auch eine Schätzung durch den Steuerpflichtigen zulässt, dürfte die Beauftragung eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen zur Schätzung der Restnutzungsdauer geboten sein. Nur ein solcher Sachverständiger dürfte aufgrund seiner Kompetenz eine fachlich fundierte Restnutzungsdauerschätzung unter Berücksichtigung der Immobilienwerteermittlungsverordnung vornehmen können und zwar ohne in den Verdacht des Parteiengutachtens zu geraten.[13]

 

 

[1] § 7 Abs. 4 Satz 1 EStG

[2] Anzinger in HHR, § 7 EStG Anm. 307

[3] § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG i.V.m. § 11c Abs. 1 EStDV

[4] § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG

[5] BFH-Urt. v. 4.3.2008 – IX R 16/07, BFH/NV 2008, 1310

[6] FG Münster, Urt. v. 27.1.2022 – 1 K 1741/18 E, rkr.

[7] BFH-Urt. v. 28.7.2021 – IX R 25/19, BFH/NV 2022, 108

[8] BFH-Urt. v. 28.7.2021 – IX R 25/19, BFH/NV 2022, 108

[9] BFH-Urt. v. 28.7.2021 – IX R 25/19, BFH/NV 2022, 108

[10] BGBl I 2021, 2805

[11] v. 14.7.2021 – BGBl I 2021, 2805 und https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/gesetzgebungsverfahren/DE/novellierung-des-wertermittlungsrechts.html

[12] V. 5.9.2012 – BAnz. AT 18.10.2012 B1

[13] So wohl auch Graw, jurisPR-SteuerR 5/2022 Anm. 3