Bei einem Bauleiter, der bei einem international tätigen großen Bauunternehmen angestellt ist, resultiert eine dauerhafte Zuordnung zu einer ortsfesten betrieblichen Einrichtung des Arbeitgebers i.S. des § 9 Abs. 4 Satz 1 EStG nicht bereits aus dem Umstand, dass im Arbeitsvertrag die Stadt, in der das Niederlassungsgebäude liegt, als „Einstellungsort“ genannt wird (Formulierung im Arbeitsvertrag: „Einstellungsort ist E“).
Gelegentliche Besprechungen des Bauleiters am Sitz des Arbeitgebers und ein gelegentliches Abholen der in Papierform eingehenden Post schließen eine Einsatzwechseltätigkeit nicht aus.
FG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 24.11.2021 – 3 K 6/20, EFG 2022, 392, Rev. eingelegt, Az. des BFH: VI R 27/21
Grundsätzliches
Ob ein Kostenabzug bzw. eine steuerfreie Reisekostenerstattung nach reisekostenrechtlichen Grundsätzen zulässig ist oder nicht entscheidet sich danach, ob am jeweiligen Einsatzort eine erste Tätigkeitsstätte unterhalten wird. Der Begriff der ersten Tätigkeitsstätte ist seit dem VZ 2014 in § 9 Abs. 4 EStG definiert.
§ 9 Abs. 4 S. 1 – 5 und S. 8 EStG
„(4) 1Erste Tätigkeitsstätte ist die ortsfeste betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers, eines verbundenen Unternehmens (§ 15 des Aktiengesetzes) oder eines vom Arbeitgeber bestimmten Dritten, der der Arbeitnehmer dauerhaft zugeordnet ist.
2Die Zuordnung im Sinne des Satzes 1 wird durch die dienst- oder arbeitsrechtlichen Festlegungen sowie die diese ausfüllenden Absprachen und Weisungen bestimmt.
3Von einer dauerhaften Zuordnung ist insbesondere auszugehen, wenn der Arbeitnehmer unbefristet, für die Dauer des Dienstverhältnisses oder über einen Zeitraum von 48 Monaten hinaus an einer solchen Tätigkeitsstätte tätig werden soll.
4Fehlt eine solche dienst- oder arbeitsrechtliche Festlegung auf eine Tätigkeitsstätte oder ist sie nicht eindeutig, ist erste Tätigkeitsstätte die betriebliche Einrichtung, an der der Arbeitnehmer dauerhaft
- typischerweise arbeitstäglich tätig werden soll oder
- je Arbeitswoche zwei volle Arbeitstage oder mindestens ein Drittel seiner vereinbarten regelmäßigen Arbeitszeit tätig werden soll.
5Je Dienstverhältnis hat der Arbeitnehmer höchstens eine erste Tätigkeitsstätte.
…
8Als erste Tätigkeitsstätte gilt auch eine Bildungseinrichtung, die außerhalb eines Dienstverhältnisses zum Zwecke eines Vollzeitstudiums oder einer vollzeitigen Bildungsmaßnahme aufgesucht wird; die Regelungen für Arbeitnehmer nach Absatz 1 Satz 3 Nummer 4 und 5 sowie Absatz 4a sind entsprechend anzuwenden.“
Das BMF-Schreiben vom 25. November 2020[1] geht näher auf die erste Tätigkeitsstätte ein. Zudem ist die nachfolgende Entscheidung für die Praxis bedeutsam.
Sachverhalt
Die Kläger sind Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Der Kläger erzielt als angestellter Bauleiter Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
Strittig ist das Vorliegen einer „ersten Tätigkeitsstätte“.
Der Kläger war in den Streitjahren als Bauleiter bei der C AG, einem international tätigen großen Bauunternehmen, beschäftigt. Die C AG unterhält eine Niederlassung in E.
Im Arbeitsvertrag mit dem Kläger ab 01.05.2014 wird bestimmt „Einstellungsort ist E“.
Dem Kläger stand in den Streitjahren ein Dienstwagen zur Verfügung, dessen Nutzung der Arbeitgeber in den Lohnabrechnungen als Sachbezug nach der 0,03 %-Regelung erfasste. Ausgehend von einem Listenpreis des Fahrzeugs von 24.900 EUR und einer Fahrstrecke von 29 km wurde monatlich der folgende Betrag dem Bruttolohn hinzugerechnet:
24.900 EUR x 0,03 % x 29 Ekm = 216,63 EUR
Das Finanzamt ging von dem Vorliegen einer ersten Tätigkeitsstätte in E aus und verwehrte einen Kostenabzug der Mehraufwendungen für Verpflegung. Seines Erachtens sei nicht glaubhaft gemacht worden, dass die Abwesenheitszeiten von der ersten Tätigkeitsstätte mehr als 8 Stunden betragen hätten.
Nach Auffassung der Kläger liege demgegenüber in E keine erste Tätigkeitsstätte, so dass der Arbeitslohn um die vom Arbeitgeber monatlich zu Unrecht erfassten 216,63 EUR zu kürzen sei; dafür entfalle die Entfernungspauschale. Zudem seien Verpflegungsmehraufwendungen zu berücksichtigen, wobei die Abwesenheit ab Verlassen bis Rückkehr zur Wohnung zu berechnen sei.
Der Kläger sei nicht dauerhaft dem Firmensitz in E zugeordnet. Es fehle an einer dahingehenden schriftlichen Festlegung durch den Arbeitgeber.
Der Kläger sei als Bauleiter seinem Arbeitgeber gegenüber in erster Linie verpflichtet, auf den jeweiligen Baustellen tätig zu werden. Er habe am Firmensitz in E zwar einen Büroarbeitsplatz mit Schreibtisch, Bürostuhl, Ablageschrank und Dockingstation für das dienstliche mobile Notebook. Er sei aber nicht verpflichtet, dort arbeitstäglich oder mehrmals wöchentlich tätig zu werden. Pro Jahr habe er allenfalls bis zu 28 Besprechungstermine am Firmensitz wahrzunehmen. Dabei handele es sich um monatliche Besprechungen mit seinem Vorgesetzten, um monatliche Beratungen mit dem dem Kläger zugeordneten Personal und um fünf bis sechs sog. Projektstartgespräche pro Jahr. Dagegen übe der Kläger durchschnittlich fast 80 % seiner Tätigkeit an wechselnden Einsatzorten aus.
Der Kläger vertritt die Auffassung, dass der Arbeitgeber unter diesen Umständen eine Zuordnungsentscheidung weder ausdrücklich noch konkludent getroffen habe.
Das Finanzamt geht demgegenüber mit folgender Begründung von einer ersten Tätigkeitsstätte in E aus:
In einer vorgelegten Arbeitgeberbescheinigung werde E als „regelmäßige Arbeitsstätte“ bezeichnet. Ob der Arbeitgeber sich der steuerlichen Folgen dieser Formulierung bewusst gewesen sei, sei unerheblich.
Indiz für die Zuordnungsentscheidung sei die Versteuerung der Privatnutzung für die Fahrten zwischen der Wohnung und der ersten Tätigkeitsstätte.
Die geltend gemachte Abwesenheit von mehr als acht Stunden von der ersten Tätigkeitsstätte sei zudem weder glaubhaft gemacht noch nachgewiesen. Der Arbeitgeber habe mehrfach mitgeteilt, dass es keine Zeitnachweise und auch sonst keine Möglichkeiten gebe, die Angaben zu den Abwesenheitszeiten zu kontrollieren.
Der Kläger sei zudem überwiegend auf denselben Baustellen tätig gewesen, so dass jedenfalls die Dreimonatsfrist des § 9 Abs. 4a S. 6 EStG zu beachten sei.
Entscheidung des FG Mecklenburg-Vorpommern
Der Kläger unterhält laut FG in E keine erste Tätigkeitsstätte i.S.d. § 9 Abs. 4 Satz 1 und 2 EStG. Er sei nicht dem Gebäude der Niederlassung in E wirksam zugeordnet. Im Arbeitsvertrag werde E als „Einstellungsort“, nicht aber als Arbeits- bzw. Tätigkeitsort bezeichnet. Der internationale Konzern wolle mit der Einstellungsortbestimmung offensichtlich regeln, dass der Kläger im Niederlassungsbereich von E zum Einsatz komme. Auch liege keine konkludente Zuordnung ohne schriftliche Zuordnungsentscheidung vor.
Der Kläger unterhält in E auch keine erste Tätigkeitsstätte nach § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG. Der Kläger solle im Gebäude in der Niederlassung E weder an jedem Arbeitstag tätig werden noch an zwei vollen Arbeitstagen pro Woche oder zu einem Drittel der vereinbarten regelmäßigen Arbeitszeit.
Mehraufwendungen für Verpflegung werden in den Streitjahren als Werbungskosten akzeptiert. Die Abwesenheitszeit ermittele sich ab Verlassen bis Rückkehr zur Wohnung. Die Dreimonatsfrist[2] komme nicht zur Anwendung, weil der Kläger an derselben Tätigkeitsstätte nicht mindestens drei Tage pro Woche tätig geworden sei.
Mangels erster Tätigkeitsstätte in E wurde der Arbeitslohn um die zu Unrecht vom Arbeitgeber erfassten geldwerten Vorteile i. H. v. 216,63 EUR im Monat gekürzt.
Anmerkungen
Die Entscheidung verdeutlicht die Komplexität des Reisekostenrechts. Im Rahmen der Erstellung der Einkommensteuererklärung ist zunächst die bisherige Handhabung des Arbeitgebers zu ermitteln und zu hinterfragen. Zudem muss die steuerliche Wirksamkeit einer Zuordnungsentscheidung im jeweiligen Einzelfall gerade bei Bauleitern, Werkstattmonteuren und Pflegekräften hinterfragt werden. Nicht zu verkennen ist ferner, dass eine Zuordnungsentscheidung nur dann wirksam ist, wenn am Zuordnungsort auch einer Tätigkeit i.S.d. § 9 Abs. 4 Satz 1 EStG nachgegangen wird. Nach Auffassung des BFH muss dort eine Tätigkeit erbracht werden, die arbeitsvertraglich geschuldet wird und die zu dem ausgeübten Berufsbild gehört.[3] Selbst wenn bei dem Bauleiter eine wirksame Zuordnungsentscheidung vorgelegen hätte, wäre fraglich, ob an der „Anlaufstelle“ eine solche zum Berufsbild gehörende Tätigkeit durch die dort absolvierten Besprechungen und die Entgegennahme von Unterlagen und mündlichen Anweisungen gegeben wäre.[4] Und gerade wegen dem letzten Aspekt kommt der Entscheidung über den Einzelfall hinaus eine hohe Bedeutung zu.
Vergleichbare Sachverhalte sollten bis zu einer Entscheidung des BFH offen gehalten werden.
Praxishinweis
Die Entscheidung ist auch für das Lohnsteuerrecht und dort für die steuerfreie Reisekostenerstattung und für die Erfassung von geldwerten Vorteilen aus einer Dienstwagengestellung bedeutsam. Um spätere Haftungsrisiken im Rahmen einer Lohnsteuer-Außenprüfung zu verhindern, sollte in Zweifelsfällen eine Anrufungsauskunft eingeholt werden.
[1] BMF-Schr. v. 25.11.2020 – IV C 5 – S 2353/19/10011:006, BStBl I 2020, 1228
[2] § 9 Abs. 4a Satz 2 bis 4 EStG
[3] BFH-Urt. v. 16.12.2020 – VI R 35/18, BStBl II 2021, 525
[4] Ablehnend auch Wache, EFG 2022, 394 (Urteilsanmerkungen)