Das BMF wird aufgefordert, dem Revisionsverfahren beizutreten, um zu der Frage Stellung zu nehmen, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen ein äußerer Betriebsvergleich in Gestalt einer Schätzung anhand der Richtsätze der amtlichen Richtsatzsammlung des BMF zulässig ist.

BFH-Beschl. v. 14. Dezember 2022[1]

Sachverhalt

Der Kläger betrieb in den Streitjahren 2013 und 2014 in einer deutschen Großstadt eine Diskothek.

Eine für die Streitjahre durchgeführte Außenprüfung beanstandete die Kassen- und Buchführung des Klägers als formell ordnungswidrig. Aus diesem Grund verprobte der Prüfer die Getränkeumsätze und ermittelte einen Rohgewinnaufschlagsatz von knapp 400 %. Dieser wich erheblich von denjenigen Sätzen ab, die den Gewinnermittlungen des Klägers zu entnehmen waren. Hieraus folgerte der Prüfer, dass die Betriebseinnahmen und Umsätze nicht vollständig erklärt worden seien.

Auf Grundlage des von dem Prüfer errechneten Aufschlagsatzes schätzte er bei den Getränkeverkäufen Einnahmen bzw. Umsätze von netto ca. 417.000 € (2013) bzw. 247.000 € (2014) hinzu. Ferner nahm er Hinzuschätzungen zu den erklärten Erlösen aus Eintrittsgeldern und Garderobendienstleistungen vor.

Die Einsprüche gegen die u.a. dementsprechend geänderten Bescheide für 2013 und 2014 hatten keinen Erfolg.

Entscheidung des FG Hamburg

Auch das FG Hamburg[2] ging von einer Schätzungsberechtigung des Finanzamts aus. Allerdings beanstandete das FG Hamburg sowohl die Schätzungsmethode als auch das Schätzungsergebnis des Finanzamts.

In Ausübung seiner eigenen Schätzungsbefugnis schätzte das FG Hamburg die Getränkeumsätze nach Maßgabe eines äußeren Betriebsvergleichs.

Dabei orientierte sich das FG bei einem Rohgewinnaufschlagsatz von 300 % zum einen an der vom BMF veröffentlichten Richtsatzsammlung, die für Gastronomiebetriebe in den Streitjahren Rohgewinnaufschlagsätze zwischen 186 % und 376 % (2013) bzw. 186 % und 400 % (2014) sowie einen Mittelwert von jeweils 257 % ausweist.

Zum anderen berief es sich auf einen nur für den Dienstgebrauch der
Finanzverwaltung erstellten Erfahrungsbericht vom 23. Mai 2017 über Betriebsprüfungen bei Diskotheken (sog. Fachinfosystem Bp NRW). In dieser, vom FG als „spezielle Richtsatzsammlung für Diskotheken“ bezeichneten Abhandlung heißt es u.a., Diskotheken würden einen Rohgewinnaufschlagsatz zwischen 280 % und 600 % auf ihren Wareneinsatz anwenden, wobei sich die Mehrzahl der Betriebe im rechnerischen Mittel bewege. Demzufolge minderte das FG die Hinzuschätzungen auf ca. 252.000 € (2013) bzw. 115.000 € (2014).

Die hinzugeschätzten Erlöse bei den Eintrittsgeldern und Garderobendienstleistungen hob es sogar in Gänze auf, da es die Schätzungsparameter des Finanzamts für unplausibel und willkürlich hielt.

Praxishinweis

Auf die NZB des Klägers hob der BFH das Urteil des ersten Rechtsgangs aufgrund eines Verfahrensfehlers auf und verwies die Sache an das FG zurück. Der BFH sah den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs als verletzt an, da das FG auf das „Fachinfosystem Bp NRW“ zurückgegriffen hatte, ohne zuvor die hieraus entnommenen Erkenntnisse dem Kläger inhaltlich zugänglich gemacht zu haben.[3]

Mit Entscheidung des FG Hamburg[4] vom 13. Oktober 2020 bestätigte dieses im zweiten Rechtsgang sein bisheriges Ergebnis und begründete den Ansatz eines Rohgewinnaufschlagsatzes von 300 % nur noch mit der Richtsatzsammlung des BMF.

Die Richtsatzschätzung wird als eine anerkannte Schätzungsmethode angesehen.

Auffassung des Klägers

Mit seiner Revision trägt der Kläger vor, die Richtsätze des BMF böten keine zuverlässige Grundlage für Schätzungen. Die in die Richtsatzsammlung einfließenden Parameter verstießen gegen statistische Logiken und Regeln.

So gehe die Richtsatzsammlung bereits von einer unzutreffenden Grundgesamtheit aus. In Deutschland existierten etwa acht Millionen Betriebe, die in 74 Gewerbeklassen der Richtsatzsammlung unterteilt seien. Wenn je Klasse ca. 10.000 Vergleichsbetriebe berücksichtigt würden, entspräche dies nur ca. 1/10 der Grundgesamtheit an Betrieben; dies sei nach den statistischen Regeln deutlich zu wenig. Darüber hinaus fehle es oftmals an einer Vergleichbarkeit der Betriebe, die derselben Gewerbeklasse zugeordnet seien. So sei eine Diskothek nicht im Ansatz mit einer Gaststätte vergleichbar. Ferner sei nicht erkennbar, ob die Richtsatzsammlung länderspezifische Besonderheiten berücksichtige. Insgesamt sei unklar, aus welchen Quellen die Daten, die Eingang in die Richtsatzsammlung fänden, stammten.

Es sei davon auszugehen, dass die Auswahl der Ergebnisse über die Außenprüfungen für die Richtsatzsammlung in mehrfacher Hinsicht zielgerichtet gesteuert werde.

Bereits die Auswahl der Prüfungen unterläge nicht dem reinen Zufallsprinzip. Unklar sei auch, ob beim „Datenzulauf“ bestimmte Regionen innerhalb Deutschlands überproportional vertreten seien, z.B. deshalb, weil dort intensiver durch die Finanzbehörden geprüft würde.

Der Richtsatzsammlung sei nicht zu entnehmen, ob nur die von der Außenprüfung ermittelten Ergebnisse in die Sammlung eingingen oder aber im Fall eines ganz oder teilweise erfolgreichen Rechtsbehelfs des Steuerpflichtigen gegen die Auswertungsbescheide entsprechende Korrekturen angebracht würden. Statistisch verfälschend wirke, dass die Ergebnisse von Verlustbetrieben nicht in die Richtsatzsammlung einbezogen würden.

Die Zahl der je Prüfungsjahr ausgewerteten Außenprüfungen sei sowohl im Verhältnis zur Anzahl der Betriebe je Gewerbeklasse als auch im Verhältnis zu den gesamten Betrieben zu gering, um statistisch relevant zu sein. Nur die Ergebnisse der Außenprüfungen von etwa sechs Promille der Betriebe pro Prüfungsjahr und Gewerbeklasse flössen neu in die Richtsatzsammlung ein. Hierbei handele es sich um eine statistisch untaugliche Stichprobe, da es an einer homogenen Grundgesamtheit fehle.

In Anbetracht der Unzulässigkeit einer auf der BMF-Richtsatzsammlung beruhenden Schätzung könne ‑‑wegen der nicht bestreitbaren formellen Aufzeichnungsmängel‑‑ allenfalls ein pauschaler Sicherheitszuschlag zu den erklärten Besteuerungsgrundlagen in Betracht kommen.

Der Kläger beantragt nur eine Hinzuschätzung zu den erklärten Werten von jeweils 5 % (20.445 € für 2013 und 20.464 € für 2014).

Auffassung des BFH

Der BFH nimmt das Revisionsverfahren zum Anlass, sich grundsätzlich mit der Rechtsfrage auseinanderzusetzen, ob und ‑ wenn ja ‑ unter welchen Voraussetzungen ein äußerer Betriebsvergleich in Gestalt einer Schätzung anhand der Richtsätze der amtlichen Richtsatzsammlung des BMF zulässig ist.

Praxishinweis

Der BFH hat das BMF zum Beitritt in einem Revisionsverfahren aufgefordert, da zu klären sei, ob ein äußerer Betriebsvergleich anhand der amtlichen Richtsatzsammlung zulässig sei.[5]

Der BFH stellt bei Anwendung der amtlichen Richtsatzsammlung als Schätzungsgrundlage[6] folgende Fragen:

  • Welche einzelnen Daten fließen mit welchem Gewicht in die jeweilige Gewerbeklasse ein?
  • Wie wird die Repräsentativität der Daten sichergestellt?
  • Gibtes Einzeldaten, die von vornherein keinen Eingang in die Datensammlung finden?
  • Könnten regionale Unterschiede bei fixen Betriebskosten bundeseinheitlichen Richtsätzen entgegenstehen?
  • Weshalb finden die Ergebnisse von Verlustbetrieben keine Berücksichtigung, obwohl auch diese Betriebe einen Rohgewinnaufschlag ausweisen?
  • Ob bzw. wie finden ganz oder teilweise erfolgreiche Rechtsbehelfe Eingang in die Richtsatzsammlung?
  • Wie kann es dem Steuerpflichtigen ermöglicht werden, das Schätzungsergebnis auf der Grundlage der Richtsatzsammlung nachzuvollziehen und zu überprüfen?

Praxisanmerkungen

Hinzuschätzungen, die auf der amtlichen Richtsatzsammlung beruhen, sollten gegenwärtig offengehalten werden. Zunächst kann die Richtsatzsammlung weiterhin als geeignete Schätzungsmethode angewandt werden.

Gleichwohl muss die Finanzverwaltung die zahlenmäßige Nachvollziehbarkeit gewährleisten. Wie die Werte der Richtsatzsammlung ermittelt werden, ist bislang nicht offengelegt und damit nicht nachvollziehbar.

Fraglich ist insbesondere, welche Einzeldaten den Richtsätzen mit welchem Gewicht zugrunde gelegt werden und wie die Repräsentativität der Daten sichergestellt wird; ob bundeseinheitliche Richtsätze mit den regional teils erheblichen Unterschieden bei den Betriebskosten vereinbar sind; die Nichtberücksichtigung der Ergebnisse von Außenprüfungen bei sog. Verlustbetrieben; die Einbeziehung von ganz/teilweise erfolgreichen Rechtsbehelfen gegen auf eine Außenprüfung ergangene Steuerbescheide. Hierauf sollte auch in aktuellen Streitfällen hingewiesen werden.[7]

Praxishinweis

Eine Verwerfung der amtlichen Richtsatzsammlung hätte sowohl Konsequenzen für das Besteuerungs- als auch für das Steuerstrafverfahren.[8]

[1] BFH-Beschl. v. 14.12.2022 – X R 19/21, DStR 2023, 517

[2] FG Hamburg, Urt. v. 3.9.2019 – 2 K 218/18, EFG 2020, 633

[3] BFH-Beschl. v. 28.5.2020 – X B 12/20, BFH/NV 2020, 1087

[4] FG Hamburg, Urt. v. 13.10.2020 – 2 K 218/18, EFG 2022, 834

[5] § 122 Abs. 2 S. 3 FGO

[6] § 162 Abs. 1 S. 1 AO

[7] Carlé, NWB 2023, 748

[8] Neugebauer, DB 2023, 861