Erstattungszinsen, die zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb gehören, sind als tarifbegünstigte Vergütung für mehrjährige Tätigkeiten anzusehen, wenn die zugrunde liegende Steuererstattung als Vergütung für mehrjährige Tätigkeiten nach § 34 Abs. 2 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes tarifbegünstigt ist (Abweichung vom BFH-Urteil vom 12.11.2013 – VIII R 36/10, BFHE 243, 506, BStBl II 2014, 168 mit Zustimmung des VIII. Senats).

 

BFH-Urt. v. 30.8.2023 – X R 2/22, DStR 2023, 2778

Offene Frage

Folgende Rechtsfrage hatte der BFH zu entscheiden:

Kann für Erstattungszinsen, die zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb gehören, die Tarifbegünstigung für Einkünfte aus einer mehrjährigen Tätigkeit angewandt werden?

 

BFH-Urteil v. 30.8.2023 – X R 2/22

Sachverhalt

Die Kläger sind Eheleute, die im Streitjahr 2012 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt werden. Der Kläger erzielte gewerbliche Einkünfte aus dem Betrieb eines Kraftfahrzeughandels; seinen Gewinn ermittelte er durch Betriebsvermögensvergleich.

Das Finanzamt erließ Ende November 2012 geänderte USt-Bescheide für 1997 bis 2000. Diese beruhten auf einer tatsächlichen Verständigung, mit der ein insgesamt mehr als acht Jahre andauerndes Einspruchs-, Klage- und Revisionsverfahren abgeschlossen wurde. Mit den Bescheiden wurde die Umsatzsteuer um insgesamt 321.774 EUR herabgesetzt; ferner wurden Erstattungszinsen in Höhe von insgesamt 203.022 EUR festgesetzt.

Der Kläger behandelte diese Beträge in seinem Jahresabschluss zum 31.12.2012 als gewinnerhöhend. Das FA übernahm den erklärten Gewinn in den ‑‑unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen‑‑ Einkommensteuerbescheid 2012 aus Juli 2014.

Die Kläger beantragten im Oktober 2014 die Änderung des Einkommensteuerbescheides 2012 und begehrten die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 4 EStG auf die USt-Erstattung sowie auf die Erstattungszinsen (Einkünfte für eine mehrjährige Tätigkeit).

Das Finanzamt ließ die ermäßigte Besteuerung nach der Fünftelungsregelung auf die Umsatzsteuererstattungen[1], nicht aber auf die Erstattungszinsen zu.

Das FG München sah in den Erstattungszinsen zur USt keine außerordentlichen Einkünfte und lehnte die Anwendung der Fünftelungsregelung ab.[2]

 

Enttscheidung des BFH

Der BFH sah die Rev. des Klägers als begründet an. Er begründete dies im Wesentlichen wie folgt:

  • Sowohl die aufgrund des langjährigen Rechtsstreits zusammengeballt zu versteuernden Umsatzsteuererstattungen als auch die darauf beruhenden Erstattungszinsen stellen ermäßigt zu besteuernde außerordentliche Einkünfte dar (Vergütungen für eine mehrjährige Tätigkeit).
  • Auch Erstattungszinsen zu Betriebssteuern sind VergütungenS.d.
    § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG.
  • Die Erstattungszinsen zu Betriebssteuern sind auch für eine „Tätigkeit“ bezogen. Auch eine zwangsweise Überlassung von Kapital wird entgegen der bisherigen BFH-Rechtsprechung[3] als „Tätigkeits“vergütung angesehen.
  • Die in der Kapitalüberlassung liegende Tätigkeit ist auch mehrjährigS.d. § 34 Abs. 2 Nr. 4 Halbsatz 2 EStG.
  • Eine Außerordentlichkeit liegt ebenso vor, weil auch die für mehrere Jahre zusammengeballt erstatteten Zinsen zu einer Progressionswirkung führen.

 

Praxishinweise

 

Geänderte BFH-Rechtsprechung

Der BFH ändert mit der Rezensionsentscheidung seine bisherige Rechtsauslegung.

Bisherige Sichtweise des BFH

Bislang stellten Erstattungszinsen keine außerordentlichen Einkünfte i.S.d. § 34 EStG dar.[4] Dies begründete der VIII. Senat des BFH auch damit, dass es an einer „Außerordentlichkeit“ mangele.[5]

Die Finanzverwaltung knüpft die Erstreckung des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG auf andere Einkunftsarten als die nach § 19 EStG an die einschränkende Voraussetzung, dass eine Zusammenballung von Einkünften eingetreten ist, die nicht dem vertragsgemäßen oder dem typischen Ablauf entspricht.[6]

Geänderte Sichtweise des BFH

Nach der vorliegenden Entscheidung des X. Senats des BFH wird nunmehr auch für Erstattungszinsen eine Tarifbegünstigung als Vergütungen für eine mehrjährige Tätigkeit[7] zugelassen.

Zu einer Vorlage an den GrS kam es nicht, da der VIII. Senat des BFH auf Anfrage des X. Senats des BFH erklärte, dass er entgegen seiner bislang geäußerten Rechtsauffassung den Bezug von Erstattungszinsen nunmehr auch als Vergütung einer Tätigkeit beurteile.[8]

Gegen eine Erstreckung des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG auf die Erstattungszinsen spreche, dass ihre Festsetzung für einen längeren, periodenübergreifenden Zeitraum und der daran anknüpfende Zufluss in einem Betrag keineswegs untypisch sei.

Praxishinweis

Die geänderte Rechtsauslegung kann in allen verfahrensrechtlich offenen Sachverhalten zur Anwendung kommen. Vergleichbare Sachverhalte sollten offen gehalten werden, da gegenwärtig abzuwarten bleibt, wie die Finanzverwaltung auf diese geänderte Rechtsprechung reagieren wird.

Vergütungen für eine mehrjährige Tätigkeit

Von einer Vergütung für eine mehrjährige Tätigkeit ist auszugehen, soweit sich die Tätigkeit über mindestens zwei Veranlagungsjahre erstreckt und einen Zeitraum von mehr als zwölf Monate erfasst. Im Entscheidungsfall begann der Zinslauf selbst für den jüngsten betroffenen Veranlagungszeitraum (Umsatzsteuer 2000) am 1.4.2002 und endete im Jahr 2012. Die als Tätigkeit anzusehende Kapitalüberlassung erstreckt sich daher auf einen mehrjährigen Zeitraum.

Praxishinweis

Ob Vergütungen für eine mehrjährige Kapitalüberlassung vorliegen, dürfte für jeden einzelnen Veranlagungszeitraum zu beurteilen sein. Dies gilt selbst dann, wenn Zinserstattungen für mehrere Veranlagungsjahre zu ein und demselben Zeitpunkt festgesetzt werden.

 

[1]           Siehe BFH-Urt. v. 25.2.2014 – X R 10/12, BStBl II 2014, 668

[2]           FG München, Urt. v. 4.5.2021 – 2 K 1666/20, juris

[3]           BFH-Urt. v. 12.11.2013 – VIII R 36/10, BStBl II 2014, 168

[4]           BFH-Urt. v. 12.11.2013 – VIII R 36/10, BStBl II 2014, 168

[5]           BFH-Urt. v. 12.11.2013 – VIII R 36/10, BStBl II 2014, 168 Rz. 40

[6]           R 34.4 Abs. 1 S. 3 EStR

[7]           § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG

[8]           BFH-Beschl. v. 1.8.2023 – VIII R 8/21, BFH/NV 2023, 1354 Rz. 23