Neues zur 6-Monatsfrist

 

Durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11. Juli 2019[1] traten folgende kindergeld- bzw. kinderfreibetragsrelevante Änderungen ein:

 

§ 66 Abs. 3 EStG, wonach Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt wird, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist, wurde aufgehoben. Die bisherige gesetzliche Regelung ist nur auf Kindergeldanträge anzuwenden, die nach dem 31. Dezember 2017 und vor dem 18. Juli 2019 bei der Familienkasse eingegangen sind.[2] Strittig ist gegenwärtig, ob auf Grundlage dieser Regelung eine Auszahlung von Kindergeld verweigert werden kann. Der BFH wird in den zahlreichen anhängigen Verfahren Entscheidungen zu treffen haben.[3]

 

Praxishinweis

Wird die Auszahlung von Kindergeld abgelehnt, stellt sich zudem die Frage, ob das nicht ausgezahlte Kindergeld im Rahmen der Günstigerprüfung zu berücksichtigen ist. Auf die aktuellen Entwicklungen zu dieser Fragestellung wird nachfolgend näher eingegangen.

§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG regelt nunmehr, dass die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats erfolgt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Diese Regelung ist auf Kindergeldanträge anzuwenden, die nach dem 18. Juli 2019 bei der Familienkasse eingehen.[4]

 

Praxishinweis

Die Aufhebung von § 66 Abs. 3 EStG und die Übernahme der sechsmonatigen Ausschlussfrist für die Auszahlung von Kindergeld in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG erfolgten, um klarzustellen, dass die Ausschlussfrist nicht dem Festsetzungs- sondern dem Erhebungsverfahren (= der Auszahlung) zuzuordnen ist.[5]

Nach § 31 Satz 4 EStG ist bei der Günstigerprüfung in der Regel der Anspruch auf Kindergeld zu berücksichtigen. § 31 Satz 5 EStG sieht eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor und bestimmt Folgendes:

5Bei der Prüfung der Steuerfreistellung und der Hinzurechnung nach (§ 31) Satz 4 (EStG) bleibt der Anspruch auf Kindergeld für Kalendermonate unberücksichtigt, in denen durch Bescheid der Familienkasse ein Anspruch auf Kindergeld festgesetzt, aber wegen § 70 Absatz 1 Satz 2 (EStG) nicht ausgezahlt wurde.

Beispiel 1

Die Eltern A und B beantragen für das 22jährige Kind mit Erstellung der Einkommensteuererklärung 2019 im September 2020 Kindergeld. Das Kind befand sich vom
1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2019 in einer kindergeldberechtigenden Berufsausbildung.

Lösung

Das Kindergeld wird zwar für 2019 festgesetzt, aber wegen des Überschreitens des
6-Monatszeitraums nicht ausgezahlt.

Im Rahmen der Einkommensteuererklärung 2019 ist die Anlage Kind auszufüllen, wobei der Anspruch auf Kindergeld mit 0 EUR einzutragen ist. Dies hat zur Folge, dass sich zumindest die Freibeträge für Kinder nebst BEA-Freibetrag steuerlich auswirken.

Praxishinweis

Auf Rückfrage sind gegenüber dem Finanzamt der betreffende Kindergeldbescheid oder eine Bescheinigung der Familienkasse nach § 68 Abs. 3 EStG vorzulegen.

Die Regelung nach § 31 Satz 5 EStG ist nach Auffassung der Finanzverwaltung erstmals für den VZ 2019 – nicht aber für davor liegende Veranlagungsjahre trotz Antragsstellung nach dem 18. Juli 2019 – anzuwenden.[6]

Beispiel 2

Die Eltern A und B haben für ihr am 1. Februar 2018 geborenes Kind erstmals am 5. Juni 2019 bei der Familienkasse beantragt, rückwirkend ab der Geburt des Kindes Kindergeld zu zahlen.

Die Familienkasse hat das Kindergeld ab dem 1. Februar 2018 festgesetzt. Im Kindergeldbescheid hat sie darauf hingewiesen, dass aufgrund der Regelung des § 66 Abs. 3 EStG Kindergeld erst ab Dezember 2018 ausgezahlt wird.

Bei der Einkommensteuerveranlagung 2018 ist im Rahmen der Günstigerprüfung der Kindergeldanspruch in Höhe von 2.134 EUR (11 x 194 EUR) zu berücksichtigen.

§ 31 Satz 5 EStG findet keine Anwendung, da der Antrag auf Kindergeld vor dem 18. Juli 2019 bei der Familienkasse eingegangen ist und diese die Auszahlung von Kindergeld für die Monate Februar bis November 2018 unter Hinweis auf § 66 Abs. 3 EStG abgelehnt hat.

Beispiel 3

Die Eltern C und D haben für ihr am 1. Februar 2018 geborenes Kind erstmals im September 2019 bei der Familienkasse Kindergeld beantragt.

Die Familienkasse hat das Kindergeld ab dem 1. Februar 2018 festgesetzt. Im Kindergeldbescheid hat sie aber unter Hinweis auf § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ausgeführt, dass Kindergeld erst ab dem Monat März 2019 ausgezahlt wird.

Bei der Einkommensteuerveranlagung 2018 ist im Rahmen der Günstigerprüfung der Kindergeldanspruch in Höhe von 2.134 EUR (11 x 194 EUR) zu berücksichtigen. Die Finanzverwaltung begründet dies damit, dass § 31 Satz 5 EStG erst ab dem Veranlagungszeitraum 2019 anwendbar und für 2018 auch ein nicht ausgezahltes Kindergeld zu erfassen sei.

Bei der Einkommensteuerveranlagung 2019 ist im Rahmen der Günstigerprüfung nur das für die Monate März bis Dezember 2019 tatsächlich geleistete Kindergeld zu berücksichtigen.[7]

 

Blick in die aktuelle Rechtsprechung

Nicht ausgezahltes Kindergeld und Günstigerprüfung (VZ 2018)

Das vorgenannte Beispiel verdeutlicht, dass die Finanzverwaltung bei Anwendung der Günstigerprüfung im VZ 2018 auf den Kindergeldanspruch unabhängig von dessen Auszahlung abstellt. Dieser Auffassung der Finanzverwaltung ist das Hessische FG mit Urteil vom 17. September 2019[8] entgegengetreten.

Es hat entschieden, dass in Fällen, in denen der Steuerpflichtige einen bestehenden Kindergeldanspruch innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist[9] gegenüber der Familienkasse geltend mache und die Familienkasse die Kindergeldzahlung wegen der Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. ganz oder teilweise ablehne, im Rahmen der Günstigerprüfung[10] der Anspruch auf Kindergeld für die Kalendermonate, für die keine Zahlung erfolgt sei, mit „null Euro“ zu erfassen sei.

 

Praxishinweis

Gegen diese Entscheidung ist ein Revisionsverfahren vor dem BFH anhängig. Vergleichbare Verfahren sollten offen gehalten werden.

Eine Entscheidung des BFH ist geboten, weil das FG Köln mit Urteil vom 5. Februar 2020[11] eine von der Auffassung des Hessischen FG abweichende Haltung eingenommen und die Verwaltungsauffassung bestätigt hat. Demnach sei der Kindergeldanspruch unabhängig vom tatsächlich ausgezahlten Kindergeld in die Vergleichsberechnung  einzubeziehen. Außerdem hat das FG Köln klargestellt, dass der neu eingeführte § 31 Satz 5 EStG nicht vor dem VZ 2019 analog anwendbar sei.

 

Praxishinweis

Auch gegen die Entscheidung des FG Köln ist ein Revisionsverfahren vor dem BFH anhängig. Vergleichbare Verfahren sollten offen gehalten werden. Einsprüche, die sich auf das beim BFH anhängige Verfahren berufen, ruhen kraft Gesetzes.[12] Dies gilt auch, wenn Familienkassen rückwirkende Kindergeldzahlungen für Kalenderjahre vor 2019 unter Hinweis auf § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n. F. abgelehnt haben.

Rechtmäßigkeit von § 66 Abs. 3 EStG a.F.

Gegenwärtig ist zudem streitig, ob die 6-Monats-Begrenzung durch § 66 Abs. 3 EStG a.F. nur für das (kindergeldrechtliche) Erhebungsverfahren gilt oder bereits für das (kindergeldrechtliche) Festsetzungsverfahren. Dazu sind zahlreiche Revisionsverfahren beim BFH anhängig.[13]

Kommt der BFH zu der Ansicht, dass Kindergeld auch mehr als 6 Monate zurück auszuzahlen sei, wäre in der Steuererklärung dieser tatsächlich erfüllte Kindergeldanspruch anzugeben.

Kommt der BFH zur Ansicht, dass Kindergeld nicht mehr als rückwirkend 6 Monate zur Auszahlung komme, wäre in einem zweiten Schritt zu klären, ob dieser nicht ausgezahlte Kindergeldanspruch bei der Günstigerprüfung zu berücksichtigen ist.

 

Praxishinweis

Aufgrund dieser Wechselwirkung sollten Einkommensteuerbescheide verfahrensrechtlich offen gehalten werden. Wird der Einkommensteuerbescheid bestandskräftig und nachträglich eine Kindergeldauszahlung abgelehnt, stellt sich die Frage nach einer Änderung gem. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO. Diese wird von der Finanzverwaltung bislang abgelehnt. Gegen einen Ablehnungsbescheid sollte Einspruch eingelegt und das Verfahren mit Hinweis auf das anhängige Revisionsverfahren in der Rechtssache III R 50/19 offen gehalten werden.

 

 

[1] BGBl I 2019, 1066 = BStBl I 2019, 846

[2] § 52 Abs. 49a Satz 8 EStG

[3] Niedersächsisches FG, Urt. v. 25.9.2018 – 8 K 95/18, Rev. eingelegt, Az. des BFH: III R 70/18; FG Düsseldorf, Urt. v. 10.4.2019 – 10 K 3589/18 Kg, juris, Rev. eingelegt, Az. des BFH: III R 33/19; Niedersächsisches FG, Urt. v. 25.2.2020 – 9 K 156/18, juris, Rev. eingelegt, Az. des BFH: III R 20/20 und III R 21/20

[4] § 52 Abs. 50 EStG

[5] BT-Drs. 19/8691, S. 65 und 67

[6] § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG

[7] § 31 Satz 5 EStG

[8] Hessisches FG, Urt. v. 17.9.2019 – 6 K 174/19, EFG 2019, 1983, Rev. eingelegt, Az. des BFH: III R 50/19

[9] § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO

[10] § 31 EStG

[11] FG Köln, Urt. v. 5.2.2020 – 14 K 1612/19, Rev. eingelegt, Az. des BFH: III R 18/20

[12] § 363 Abs. 2 Satz 2 AO

[13] Niedersächsisches FG, Urt. v. 25.9.2018 – 8 K 95/18, Rev. eingelegt, Az. des BFH: III R 70/18; FG Düsseldorf, Urt. v. 10.4.2019 – 10 K 3589/18 Kg, juris, Rev. eingelegt, Az. des BFH: III R 33/19; Niedersächsisches FG, Urt. v. 25.2.2020 – 9 K 156/18, juris, Rev. eingelegt, Az. des BFH: III R 20/20 und III R 21/20

 

 

Stand: 22.07.2020